22.04. ‐ 27.04.2025

Hysteria

von Tharaka Sriram | am Thursday 8 May 2025

Mehmet Akif Büykataly | 2025 | Thriller | Germany

Lichter Filmfestcritics blog

Der deutsche Spielfilm Hysteria (2025) von Mehmet Akif Büyükatalay ist ein Thriller, der an einen Horrorfilm grenzt. Dabei geht es nicht nur um materiell leicht entzündliche Stoffe, sondern das unsichtbare vernichtende Feuer, das schnell lodern kann - zwischen Religionen, Kulturen, Geschlechtern, Klassen.

Im Zentrum der Geschichte steht Elif (Devrim Lingnau), eine junge Regieassistentin, die als Praktikantin an einem Filmprojekt über den Brandanschlag von Solingen 1993 beteiligt ist. Während der Dreharbeiten wird ein Koran verbrannt, was zu Spannungen zwischen der Filmcrew und den beteiligten Komparsen führt, die in einer Flüchtlingsunterkunft untergebracht sind.

Als Elif den Schlüssel zur Wohnung der Regisseurin und Produzentin Lilith (Nicolette Krebitz) verliert und wichtige Filmkassetten verschwinden, steigt die zwischenmenschliche Temperatur immer weiter an: Elif verstrickt sich zunehmend in Lügen. Geheimnisse und Manipulationen des Regiepaares und der Komparsen werden deutlich, bis die Zündtemperatur erreicht ist. Und zwar im übertragenen wie im buchstäblichen Sinne.

Der Brandanschlag von Solingen war ein im nordrhein-westfälischen Solingen verübtes rechtsextremes Verbrechen: In der Nacht auf den 29. Mai 1993 wurde das Haus der Familie Genç angezündet – Erwachsene, Kinder und Jugendliche starben – Saime (4 Jahre) , Hülya (9 Jahre) und Hatice Genç (18 Jahre), Gürsün İnce (27 Jahre) und Gülüstan Öztürk (12 Jahre). 14 weitere Menschen wurden teils lebensgefährlich verletzt. Damals wurden vier Männer verurteilt, von denen sich drei davon wenige Tage vor der Gedenkfeier zum 30. Jahrestag erstmals an die Öffentlichkeit wendeten und ihre Unschuld beteuerten. Der vierte Verurteilte schweigt weiterhin.

Unter diesem Aspekt bleibt die Kritik an dem Filmprojekt hängen, die direkt zu Beginn einer der Komparsen, Mustafa (Aziz Çapkurt), äußert: "Ein Film, der nur für das gute Gewissen Europas gemacht wird." Wie oft muss die Filmwelt schreien, dass der Wolf, die Gewalt und der Hass da sind - bis etwas passiert? Bis die Gesellschaft aufwacht, um das Feuer des Hasses ein für alle Mal zu löschen?

Die düstere Atmosphäre, verstärkt durch die Unheil verheißende Musik, zeigt immer weiter auf, wie weit die hehren moralischen Botschaften, die der Regisseur im Film, Yigit (Serkan Kaya), der Gesellschaft gegenüber kommuniziert, entfernt sind von seinen persönlichen Ansichten und Taten. Was bedeutet Kunstfreiheit und bis wohin kann sie gehen? 

Charlie Hebdo wird im Film zur Sprache gebracht: Der Anschlag auf Charlie Hebdo war ein islamistisch motivierter Terroranschlag in Paris, der am 7. Januar 2015 auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatte, verübt wurde. Die Täter, die sich später zu Al-Qaida bekannten, drangen in die Redaktionsräume der Zeitschrift ein, töteten elf Personen, verletzten mehrere Anwesende und ermordeten auf ihrer Flucht einen weiteren Menschen. Am folgenden Tag wurden weitere Menschen getötet. Weltweit gingen Menschen nach Bekanntwerden des Anschlags spontan auf die Straße, viele trugen Plakate mit der Solidaritätsbekundung „Je suis Charlie“ („Ich bin Charlie“).

Des Weiteren sind im Film Nachrichtenausschnitte zu sehen, die die Koranverbrennungen in Schweden 2023 (dort als "Korankrise“ betitelt) zeigen. Einer der Akteure, der den Koran verbrannt hat, ein Flüchtling aus dem Irak, wurde 2025 getötet.

Die Flamme des Hasses, die nie versiegt. Gewalt und Gegengewalt, Rache. All das verwoben in einem Whodunit in einer bildungsbürgerlichen Wohnung, die zunehmend klaustrophobischer wird. Die Grenzen zwischen Realität und Alptraum verschwimmen. Getragen wird der Film hauptsächlich von der Leistung Devrim Lingnaus, die glaubhaft Elif als ambivalente Figur und bisweilen unzuverlässige Erzählerin darstellt. Ihr Crying-Wolf-Verhalten wird ihr zum Verhängnis.

Das Publikum aber bleibt mit Fragen zurück: Der Film, gedreht von einem Mann mit Migrations- und Fluchtbiographie, ebenso wie Darstellerin der Protagonistin. Die meisten Menschen, die in diesem Film mitspielen, sowie ihren Rollen, haben eine Migrations- und Fluchtbiographie. Doch: Wer in dem Film ist von Hysterie betroffen? Die nur unzureichend entwickelten Nebenfiguren, wie die Regisseure oder die Komparsen? Oder nur Elif, was auf eine antiquierte Deutung des Begriffes hindeutet - eine junge Frau, definiert durch einen Uterus?

Im Interview gesteht der Regisseur, dass er fünf Jahre an dem Film gearbeitet hat. Auf die Frage, wieso er sich für den Filmtitel "Hysteria" entschieden hat, verweist er darauf, dass es ihm um die Darstellung einer gesamtgesellschaftlichen Hysterie geht und die Geschichte des Schlüsselverlustes (basierend auf eigener Erfahrung) die Ursprungsidee für das Drehbuch ist.

Der Titel "Hysteria" trägt eine gewichtige historische und politische Last – eine Last, der sich der Regisseur nach eigenen Angaben nicht bewusst war.

Bereits mehrere Filme trugen diesen Titel, darunter die britische Komödie "Hysteria" (2011) von Tanya Wexler, die sich satirisch mit der Erfindung des Vibrators im viktorianischen England beschäftigt und dabei den medizinischen Umgang mit weiblicher Sexualität kritisch beleuchtet.

Der Begriff „Hysterie“ selbst stammt aus dem Altgriechischen (hystera = Gebärmutter) und war über Jahrhunderte hinweg ein Sammelbegriff für vermeintlich „weibliche“ psychische Erkrankungen wie Nervosität, Reizbarkeit oder emotionale Ausbrüche. Frauen, insbesondere solche, die sich nicht in die patriarchalen Rollenerwartungen fügten, wurden pathologisiert – häufig mit zutiefst entwürdigenden, medizinisch unhaltbaren Diagnosen und Behandlungen. Aus heutiger Sicht ist der Begriff Hysterie nicht nur wissenschaftlich überholt, sondern auch zutiefst sexistisch. Er verharmlost die realen psychischen Belastungen von Frauen und reproduziert alte Stereotype über ihre angebliche emotionale Instabilität.

Gerade in einem Zeitalter wachsender Sensibilität für psychische Gesundheit und Gleichberechtigung verwundert es, dass ein Film diesen Titel trägt, ohne sich mit dieser historischen Problematik kritisch auseinanderzusetzen.

Und wenn es tatsächlich um die gesamtgesellschaftliche "Hysterie" geht, wieso wurde eine junge weibliche Protagonistin gewählt, deren Handlungen und Wahrnehmungen im Fokus stehen? Es wäre ein Leichtes gewesen, dem Film einen anderen Titel zu geben.

Alles in allem ein Film, der sich zu viel vornimmt, brisante Themen anreisst, man könnte sogar sagen ausnutzt - und diese dann in Flammen aufgehen lässt – ohne ihnen gerecht geworden zu sein.

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