22.04. ‐ 27.04.2025

Toxic

von Sophia Montanus | am Samstag, 26. April 2025

Saulė Bliuvaitė | 2024 | Coming of Age | Litauen

Lichter FilmfestKritiker Blog

Marija (Vesta Matulytė) blickt uns direkt an. Mit diesen durchbohrenden, doch scheinbar teilnahmslosen Blick. Sie steht, nur im Badeanzug bekleidet, in einer Schwimmbadumkleidekabine. Im Hintergrund ist das leise, aber gut verständliche Geflüster dreier Mädchen zu hören, die im Nebengang an ihren Spinden stehen. Sie lästern über Marija – über ihr Aussehen und ihren Badeanzug. Erst lässt Marija es geschehen so, als würde es sie gar nicht treffen. Doch dann plötzlich geht sie energisch, fast aggressiv auf die Gruppe zu und konfrontiert sie. Die Situation eskaliert, es wird handgreiflich, doch Marija hat keine Chance gegen die drei. Allein bleibt sie zurück in der Umkleidekabine. Sie blickt in ihren Spind und uns damit wieder direkt an. Wieder mit dem gleichsam durchbohrenden und dennoch leeren Blick. In diesem Blick zeigt sich hier nicht zum letzten Mal die Härte, die den weiteren Verlauf des Filmes durchziehen wird – und das beklemmende Gefühl, dass dies erst der Anfang war, bleibt zurück.

Die 13-jährige Marija ist die Hauptfigur in Saulė Bliuvaitės Spielfilmdebüt. Sie musste zu ihrer Großmutter ins Niemandsland in eine heruntergekommene litauische Kleinstadt ziehen. Schnell wird sie dort aufgrund ihres angeborenen Humpelns von den anderen Kindern ausgeschlossen und gehänselt. Sie gerät sogar in eine Prügelei mit der gleichaltrigen Kristina (Ieva Rupeikaitė). Aus dieser Begegnung entwickelt sich jedoch eine immer engere Freundschaft. Bald verbringen Marija und Kristina jede freie Minute miteinander – und so folgt Marija ihr auch in die Modelschule, in die alle Mädchen des Dorfes gehen. Mit der Hoffnung auf eine große Karriere in der internationalen Modebranche und dem Wunsch, der Trostlosigkeit der Kleinstadt zu entkommen, arbeiten die Mädchen mit allen Mitteln daran, den körperlichen Anforderungen gerecht zu werden. Die Spirale aus immer extremer werdender Körperoptimierung, Selbsthass, Essstörungen und selbstzerstörerischem Verhalten zieht Marija und Kristina zunehmend in ihren Bann.

Bliuvaitė gelingt es, ein vollkommen ungeschöntes und zeitweise erschütterndes Bild jugendlicher Identitätssuche zu zeichnen. Dabei setzt sie auf eine einnehmende, sorgfältig komponierte Bildsprache, die auch ohne große Dialoge oder Musikuntermalung ihre volle Wirkung entfaltet. Die meist kühle, minimalistische Ästhetik der Aufnahmen und der Szenerie fängt die Härte und Trostlosigkeit der Welt ein, in der sich die Protagonistinnen bewegen, und schafft es gleichzeitig, auch die Schönheit und Zärtlichkeit sichtbar zu machen, die im Hässlichen wie im Giftigen koexistieren.

Das zeigt sich in der engen Freundschaft zwischen Marija und Kristina, die einander – in einer Umgebung geprägt von Tristesse, gefährlichem Schönheitswahn und Konkurrenzkampf – nie aus den Augen verlieren und eine tiefe Verbundenheit teilen, die oft ganz ohne Worte auskommt.

Toxic ist ein stiller und kraftvoller Film, der mit eindringlicher Klarheit die Realität des Erwachsenwerdens in einer Welt voller gefährlicher Körper- und Schönheitsideale ungeschönt auf den Punkt bringt. Saulė Bliuvaitė gelingt ein nuanciertes Porträt zweier heranwachsender Mädchen, die inmitten dieser kalten, harten Welt, geprägt von gewaltsamem Miteinander, ihren eigenen Weg finden. Dabei fängt sie insbesondere die Ambivalenz zwischen Härte und Zärtlichkeit, zwischen Hässlichkeit und Schönheit ein – was Toxic zu einem wirklich bewegenden Film macht.

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