Toxic
von Hannah Kieweg | am Montag, 28. April 2025

Gelangweilt und frustriert sitzt die 13-jährige Marija (Vesta Matulytė) auf dem Bett, in dem sie ab jetzt schlafen soll. Ihre Oma versucht unterdessen, die weiße Wand des Zimmers ihrer Enkelin mit ein paar Bildern zu schmücken. Schönes in etwas Trostlosem oder gar Hässlichem zu finden, könnte man sagen, ist die Devise des Debütfilms von Saulė Bliuvaitė. Einen Sinn scheint Marija darin zumindest anfänglich aber nicht zu sehen; sie will eigentlich gar nicht hier sein, in diesem trostlosen Industriegebiet in Litauen, das nicht viel zu bieten hat für ein Mädchen wie sie. Doch ihre Mutter am Telefon vertröstet sie unwirsch auf ihre wiederholte Nachfrage hin, wann sie wieder zu ihr zurückkommen kann.
Neue Orte und neue Menschen sind für Marija keine leichte Sache. Das Erste, was an ihr wahrgenommen wird, ist ihr hinkendes Bein, mit dem sie geboren wurde. In einer Jugendkultur, die bestimmt wird vom Streben nach Perfektionismus und einem stereotypen Idealbild von Schönheit, bleibt die stigmatisierte Marija von sich aus lieber allein. Doch ihr Bein wird trotzdem zur Angriffsfläche für die Mädchen in der Nachbarschaft, und macht Marija zum Gespött. Ungerechtigkeiten kann sie aber nicht einfach stehen lassen und konfrontiert Kristina (Ieva Rupeikaitė), ein Mädchen, das zuvor ihre Jeans gestohlen hat, mit ihrem Verhalten, was schließlich in einer Prügelei endet. Aus der anfänglich feindlichen Stimmung wächst jedoch schnell eine aufrichtige Freundschaft, beide werden unzertrennlich und zum wichtigsten Menschen füreinander. Gemeinsam versuchen sie inmitten des Chaos des Erwachsenwerdens klarzukommen. Marija folgt Kristina in die Modelschule, die die einzige Perspektive und der einzige Ausweg aus diesem trostlosen Ort zu sein scheint.
Toxic zeigt in unterschiedlichsten Formen, was es bedeutet, als Mädchen an einem perspektivlosen Ort aufzuwachsen, und wie Girlhood gleichzeitig verbindet. Der litauische Originaltitel Akiplėša, der so viel bedeutet wie unverschämter, schamloser oder frecher Mensch, könnte genauso gut auch durch das englische „brat“ ersetz werden, erleben die Mädchen der Modelschule doch einen Brat Summer, auf den Charlie xcx stolz sein könnte. Zigaretten rauchen, mit Barbies spielen, die ersten Erfahrungen mit Drogen machen, mit den älteren coolen Jungs bis in die Morgenstunden am See verbringen. Doch diese romantisierte Idee von Marijas und Kristinas Brat Summer wird zu oft gebrochen durch die harsche Realität, die von Armut und Unsicherheit geprägt ist, um als ein Coming of Age Film à la Call Me by Your Name (Luca Guadagnino, 2017) durchzugehen, entdecken doch auch Marija und Kristina ihre Sexualität. Die Realität schlägt zurück, und wir erleben, wie die meisten Mädchen der Modelschule ein massiv gestörtes Verhältnis zu Essen entwickeln, und der Wahn immer dünner zu werden, sie auf teilweise radikale und hochgefährliche Ideen bringt. Knapp an Geld für teure Fotoshootings der Modelschule, werden sie zu leichter Beute. Ständig wird die Rolle der Körper der Mädchen verhandelt. Er wird zur Währung, zum Produkt, zum Objekt der Begierde, aber auch zum Medium, um miteinander in Kontakt zu treten. In schonungslosen Bildern zeigt Bliuvaitė, wie der weibliche Körper buchstäblich zum Schlachtfeld wird.
Dabei entwickelt sie eine beeindruckende Bildsprache, die inmitten dieser toxischen Spirale nie den Blick für die Schönheit der Freundschaft der beiden verliert, und erinnert dabei in ihrer Darstellung der postindustriellen Landschaft – verlassene Fabriken, graue Wohnblocks und weite, leere Räume – zeitweise an die Filme von Andrej Tarkowski. Es geht darum, die Schönheit in etwas vermeintlich Hässlichem zu sehen. Einen Blick, den man vielleicht am stärksten unbewusst als Kind hat, und dann in der Pubertät, auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, zu verlieren droht.
Mit eindrücklichen Bildern zeigt Toxic die ungeschönte Realität heranwachsender Mädchen, die von einem toxischen Idealbild des weiblichen Körpers bestimmt ist. Er schockiert dabei teilweise mit seinen Bildern, schafft es aber gleichzeitig, die Schönheit und Zartheit der Freundschaft der beiden Mädchen einzufangen, während sie versuchen, für ihren Platz in der Welt zu kämpfen.