Zirkuskind
von Klara Albert | am Dienstag, 6. Mai 2025

Mit Zirkuskind gelingt Julia Lemke und Anna Koch ein kleines Kunststück: ein Dokumentarfilm, der die bunte Welt des Zirkus nicht verklärt, sondern behutsam entstaubt und neu zum Leuchten bringt. Im Mittelpunkt steht der junge Santino, ein echtes Zirkuskind, das uns mitnimmt in einen Alltag, der gleichermaßen von harter Arbeit, großen Träumen und einer tief verwurzelten Leidenschaft lebt. Zwischen Matheheften, Stallarbeiten und Trainingsstunden auf dem Drahtseil entfaltet sich ein Leben, das den meisten Zuschauer*innen so fern erscheint – und doch so unmittelbar berührt.
Die Kamera bleibt stets auf Augenhöhe, beobachtet respektvoll und geduldig. Es gibt keine dramatisierten Konflikte, keine künstlichen Höhepunkte. Stattdessen entstehen ehrliche Momente: das Anziehen der bunten Kostüme, das heimliche Üben eines neuen Tricks, das Warten hinter dem Vorhang, bevor der große Auftritt beginnt. Besonders beeindruckend ist die völlige Unverstelltheit der Menschen vor der Kamera. Nichts wirkt aufgesetzt, nichts gespielt – hier zeigen sich echte Persönlichkeiten, die ihre Liebe zum Zirkusleben offen und selbstverständlich teilen.
Ein Satz von Santinos Uropa zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählung: „Solange es Kinder gibt, gibt es auch den Zirkus.“ Diese Worte sind mehr als nur ein nostalgisches Motto – sie fassen die tiefe Verwurzelung des Zirkusgedankens zusammen, die in jeder Szene des Films spürbar ist. Zirkuskind porträtiert eine Welt, in der Tradition nicht als verstaubtes Erbe, sondern als lebendige Verpflichtung verstanden wird – weitergegeben von Generation zu Generation, getragen von Stolz, Liebe und einer gehörigen Portion Durchhaltevermögen.
In zarten Zwischentönen ergänzt Zirkuskind die dokumentarische Beobachtung durch liebevoll gestaltete Animationen. Sie sind wie Traumsequenzen, die sich sanft zwischen die realen Bilder schieben, Gedanken sichtbar machen und das Unsichtbare erlebbar werden lassen. Mal schweben Fantasietiere über den Himmel, mal tanzen Erinnerungen durch einen Farbenrausch – immer fügen sie dem Erzählten eine poetische Dimension hinzu. Diese Animationen sind nicht bloß dekoratives Beiwerk, sondern öffnen Fenster, besonders in die Innenwelt von Santinos Uropa.
Dabei bewahrt sich der Film eine Leichtigkeit, die ihn gleichermaßen für junge und ältere Zuschauer*innen zugänglich macht. Kinder finden sich wieder in der Verspieltheit der Bilder, Erwachsene entdecken zwischen den Zeilen große Themen wie Verantwortung, Familienzusammenhalt und die Bedeutung von Berufung. Besonders schön ist ein weiteres Zitat, das Santinos Uropa im Laufe des Films ausspricht: „Man muss alles mit Liebe tun.“ Es klingt einfach, beinahe selbstverständlich – und wird doch zur stillen Maxime des gesamten Films.
Trotz all der Wärme bleibt nicht unbemerkt, dass Zirkuskind ein sehr harmonisches Bild des Zirkuslebens zeichnet. Nach der Vorstellung schilderte Julia Lemke, dass sie und Anna Koch lange recherchiert hätten, um einen passenden Zirkus zu finden – einen Ort, an dem Tiere gut gehalten werden, in dem das soziale Gefüge stimmt und die Menschen bereitwillig vor die Kamera treten. Diese bewusste Auswahl verleiht dem Film seine durchgängig positive Grundstimmung. Gleichzeitig blendet sie jene real existierenden Schattenseiten aus, die es im Zirkusalltag durchaus gibt: prekäre Arbeitsverhältnisse, schwierige Zukunftsperspektiven, den gesellschaftlichen Wandel, der kleine Wanderzirkusse vielerorts unter Druck setzt.
Auch bleibt eine spannende Frage weitgehend ungestellt: Gibt es für Kinder wie Santino überhaupt Alternativen? Träumen sie manchmal von einem Leben jenseits des Zirkuszeltes? Würden sie andere Wege gehen, wenn sie könnten? Eine vorsichtige Auseinandersetzung mit dieser Thematik hätte dem Film eine zusätzliche Tiefe gegeben, ohne seine liebevolle Grundhaltung zu gefährden.
Was Zirkuskind jedoch nicht erzählt, erzählt es auf andere Weise: durch die Blickwechsel, das Lachen im Backstagebereich, die kleinen Gesten des Alltags. In seiner Zartheit und Konzentration auf das Schöne bewahrt sich der Film eine Haltung des Respekts – gegenüber seinen Protagonist*innen, gegenüber dem Publikum und gegenüber der Zirkuskunst selbst.
Schon frühere Werke von Julia Lemke und Anna Koch zeigten diese besondere Gabe, Geschichten leise, aber intensiv zu erzählen. Kochs Wir waren Könige tauchte einfühlsam in eine sich auflösende Welt ein, Lemkes frühere Projekte überzeugten durch ein feines Gespür für ungewöhnliche Lebensrealitäten. In Zirkuskind bündeln die beiden Regisseurinnen nun ihre Stärken: die präzise Beobachtungsgabe, die tiefe Empathie, den Mut zur poetischen Verdichtung.
Zirkuskind ist wie ein Nachmittag in einem echten, kleinen Zirkuszelt: Es riecht nach Sägemehl und Zuckerwatte, es staubt ein wenig, es funkelt an den richtigen Stellen – und am Ende verlässt man das Zelt ein bisschen leichter, ein bisschen staunender, ein bisschen glücklicher. Es ist ein Film, der daran erinnert, wie wertvoll es ist, wenn Menschen etwas nicht nur tun, weil sie es müssen, sondern weil sie es lieben.
Und solange es Kinder wie Santino gibt, die mit dieser Liebe in der Manege stehen, wird es auch den Zirkus geben. Ganz sicher.