22.04. ‐ 27.04.2025

Memoir of Snail

von Tharaka Sriram | am Donnerstag, 8. Mai 2025

Adam Elliot | 2024 | Animationsfilm | Australien

Lichter FilmfestKritiker Blog

"Goddam life, such a stupid, stupid puzzle!"

Über die Rätselhaftigkeit des Lebens ärgert sich Grace Pudel, die Erzählerin und Hauptfigur des Stop-Motion-Meisterwerks "Memoir of a Snail" (2024), während sie im "pity pity", dem Garten ihrer besten Freundin Pinkie sitzt. Grace Pudel führt das Publikum durch die Puzzleteile ihres bewegten Lebens: Der Film spielt im Australien der 1970er Jahre. Die Mutter von Grace stirbt nach ihrer Geburt. Der Vater, Percy Pudel, ein Alkoholiker, sitzt im Rollstuhl. Doch Grace ist zum Glück nicht allein mit diesen Schicksalsschlägen: Sie hat ihren liebevollen Zwillingsbruder Gilbert.

Grace mag rechte Winkel und sammelt gerne. Gilbert liebt Feuer und Tiere. Die beiden sind ein Herz und eine Seele – bis sie voneinander getrennt werden. Die Mutter liebte Schnecken und so benennt Grace eine echte Schnecke nach ihrer Mutter – Sylvia. Schnecke Sylvia begleitet das Publikum gemeinsam mit Grace durch die Erzählung. 

Der Regisseur Adam Elliot ist ein australischer Stop-Motion-Animator und Drehbuchautor. Er wurde in Berwick, Victoria, Australien geboren und wuchs im australischen Outback auf einer Garnelenfarm auf. Sein Vater war ein ehemaliger akrobatischer Clown, und seine Mutter arbeitete als Friseurin. Elliots Werke werden als „Clayographies“ (aus „Clay“ (Ton) und „Biographies“ (Biografien)) bezeichnet, da sie oft auf seinem eigenen Leben oder dem seiner Familie und Freunde basieren. Seine einzigartige Handschrift – schwarzer australischer Humor, Empathie für neurodivergente Menschen und einem Blick für Details und Schönheit– prägt auch dieses Werk.

Der Regisseur ist Oscar-Preisträger für "Harvie Krumpet" (2003) und bekannt für den sensationellen Stop-Motion-Film "Mary & Max" (2009) sowie "Ernie Biscuit" (2015). Mit "Memoir of a Snail" kehrt er nach über einem Jahrzehnt zurück auf die Leinwand. Ein vergleichender Blick auf sein bisheriges Werk zeigt Gemeinsamkeiten und die Entwicklung von Themen wie psychische Gesundheit, weibliches Empowerment und Queerness: "Harvie Krumpet" (2003) ist ein unglücklicher Mann mit Tourette-Syndrom, der trotz einer Serie absurder Schicksalsschläge ein ungewöhnlich erfülltes Leben führt. Der Film porträtiert Erkrankungen wie Depression und Demenz mit schwarzem Humor und Mitgefühl.

In "Mary and Max" (2009) geht es um die jahrzehntelange Brieffreundschaft zwischen Mary, einem einsamen australischen Mädchen, und Max, einem jüdischen Mann mit Asperger-Syndrom in New York. Die psychische Gesundheit steht hier im Fokus: Max lebt mit Autismus, Mary kämpft mit Depression und Alkoholismus. Der Film zeigt ihre Innenwelt und Stigmatisierung eindrucksvoll. Marys Weg zur akademischen Unabhängigkeit und die Kämpfe als Frau in einer konservativen Umgebung sind prägnant dargestellt. Max’ Nachbar ist queer – seine Figur ist liebevoll gezeichnet und zeigt den Einfluss von Vorurteilen.

In "Ernie Biscuit" (2015) erlebt ein tauber, einsamer Taxidermist aus Paris eine unerwartete Liebe und begibt sich auf eine skurrile Reise mit einer Frau aus Polen. Themen wie Isolation und Trauma durch Verlust sind leise, aber präsent. Die weibliche Hauptfigur wird aktiv, mutig und unabhängig dargestellt – sie verlässt einen Zwangskontext. Grace, die Hauptfigur in "Memoir of a Snail", ist Elliots bisher komplexeste weibliche Hauptfigur. Sie steht exemplarisch für Menschen, die sich am Rande der Gesellschaft befinden. Ihre Geschichte soll zur Reflexion über gesellschaftliche Normen und individuelle Freiheit anregen.

Der Film gewann bei mehreren internationalen Filmfestivals Preise und wurde bei den 97. Academy Awards im Jahr 2025 für den Besten Animationsfilm nominiert. Für seine tiefgründige und humorvolle Darstellung komplexer Themen wie Trauma, psychische Gesundheit und soziale Isolation wurde er vielfach gelobt. "Memoir of a Snail" (2024) ist Elliots zweiter Langfilm und trägt deutlich autobiografische Züge.

Beim Schreiben ließ er sich von persönlichen Erfahrungen inspirieren: Beispielsweise musste Elliot nach dem Tod seines Vaters im Jahr 2017 dessen drei vollgestopfte Schuppen ausräumen. Diese Erfahrung weckte sein Interesse an der Psychologie des Sammelns und der Verbindung zwischen Trauma und Hortung. Als Kind sammelte Elliot Schnecken in Eiscremebehältern. Er sah Parallelen zwischen dem Rückzugsverhalten der Schnecken und der sozialen Isolation von Grace, was zur Symbolik im Film beitrug. Eine Freundin von Elliot wurde mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren und erlebte in ihrer Kindheit Mobbing. Ihre Geschichte inspirierte ihn zur Entwicklung des Films. 

Obwohl "Memoir of a Snail" keine direkte Autobiografie ist, verwebt Elliot persönliche Erlebnisse und Beobachtungen zu einer fiktiven, aber emotional authentischen Geschichte. Der Film behandelt Themen wie Tod, Einsamkeit, Depression, Trauma, Homophobie, Resilienz und die Bedeutung von Freundschaften.

Die visuelle Umsetzung von "Memoir of a Snail" ist ein Triumph der Stop-Motion-Technik. Mit über 135.000 Einzelbildern, 200 handgefertigten Sets und detailverliebten Figuren aus Ton, Draht und Papier entsteht eine Welt, die gleichermaßen realistisch wie surreal wirkt. Die Musik von Elena Kats-Chernin unterstreicht die emotionalen Nuancen der Geschichte. Sarah Snook verleiht Grace Pudel eine Stimme, die zwischen Verletzlichkeit und Stärke oszilliert. Jacki Weaver als Pinky bringt Wärme und Humor in die düstere Welt von Grace. Weitere namhafte Sprecher wie Kodi Smit-McPhee, Eric Bana und Nick Cave ergänzen das Ensemble und tragen zur emotionalen Tiefe des Films bei. 

Ein Kunstwerk der Animation, das sich lohnt, mehrfach anzuschauen – man wird immer wieder neue Entdeckungen machen, neue Details sehen, die zum Grübeln, Lachen oder Weinen anregen. Etwa die Literatur, die im Film auftaucht, wie "Das Tagebuch der Anne Frank". 

"Memoir of a Snail" ist eine Geschichte voller Behältnisse – Gefängnisse, Gehäuser, Gläser und Schatullen. So sagt auch Pinkie, die Freundin von Grace: "The worst cages are the ones we create for ourselves." Am wichtigsten ist die Schnecke als ein faszinierendes Symbol. Ihre langsamen Bewegungen, das schützende Gehäuse und die spiralförmige Struktur machen sie zu einem kraftvollen Sinnbild für verschiedene Aspekte des Lebens von Grace: Geduld und Ausdauer, Schutz und Rückzug, Transformation und Wiedergeburt, der Zyklus des Lebens.

Im Kontext der mentalen Gesundheit wird das Bild der Schnecke, die sich in ihr Haus zurückzieht, oft verwendet, um Zustände wie soziale Isolation oder Depression zu veranschaulichen und gleichzeitig an Selbstfürsorge zu erinnern. Zeit für sich selbst zu nehmen und auf die eigenen Bedürfnisse zu achten.

Und wie bei einer echten Schnecke hält das Gehäuse von Grace Schritt mit ihrem Wachstum, bis sie sagen kann: "We are finally free of our cages."

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